Interview des Monats mit Frau Dr. Lena Calahorrano, Fraunhofer-Institut für angewandte Informationstechnik FIT Sankt Augustin

Stefan Knauf bei Wikipedia Fraunhofer-Campus

Frau Dr. Lena Calahorrano ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für Mikrosimulationsmodelle am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT in Sankt Augustin bei Bonn. Die Volkswirtin beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der Gleichstellung von Männern und Frauen und der Alterssicherung. Sie hat mit ihrem Team ein Mikrosimulationsmodell entwickelt, um abzuschätzen, wieviele pflegende Angehörige von einer Entgeltersatzleistung analog zum Elterngeld profitieren würden und wie hoch die staatlichen Ausgaben für eine solche Leistung wären.

Interviewer: Alexander Schlör

Foto: Quelle siehe unten

 

Frau Dr. Calahorrano, ich heiße Sie willkommen.

 

Frage 1:

Können sie uns kurz und einfach erklären, was ein Mikrosimulationsmodell ist?

Antwort

Ganz einfach ist das nicht, aber ich versuche es gerne: Ein Mikrosimulationsmodell ist ein ökonomisches Modell, das auf mikroökonomischen Daten beruht, also auf Daten von einzelnen Personen, Haushalten oder Unternehmen. Wir nutzen in unserem Modell die Daten des Sozio-Ökonomischen Panels. Das ist die größte freiwillige (und natürlich anonyme) deutsche Haushaltsbefragung. Seit 1984 werden jährlich etwa 30.000 Personen in 15.000 Haushalten befragt, unter anderem zu ihrem Erwerbsleben, ihrem Einkommen, ihren Einstellungen und ihrer Zeitverwendung, darunter auch zum Zeitumfang, den sie mit der Betreuung und Versorgung von pflegebedürftigen Personen verbringen. Während in der Pflegestatistik erfasst wird, wie viele Personen einen Pflegegrad haben, gibt es nämlich keine amtlichen Zahlen dazu, wie viele Menschen sich an der Pflege dieser Personen beteiligen.

Für diese Menschen und auch für einige potenziell aber bisher noch nicht Pflegende, kann man analysieren, was sie bisher für Erwerbsentscheidungen getroffen haben, was sie bisher für ein Erwerbseinkommen haben und welches Nettoeinkommen ihrem Haushalt nach geltendem Recht nach Zahlung von Steuern und Sozialabgaben und ggf. Erhalt von Transfers zur Verfügung stehen dürfte. Diese Steuer-Transfer-Simulation kann dann auch für andere Arbeitszeitalternativen durchgeführt werden, und aus dem Vergleich dieser Alternativen mit der im Status Quo beobachteten Arbeitszeit kann geschätzt werden, wie wichtig der jeweiligen Person Einkommen und verfügbare Zeit sind. Im nächsten Schritt wird dann berechnet, wie eine Entgeltersatzleistung das Einkommen der verschiedenen Arbeitszeitalternativen verändern würde. – Der Einkommensverlust bei einer Reduzierung der Arbeitszeit ist dann deutlich geringer. – Manche Menschen haben sich schon im Status Quo zu einer Reduzierung ihrer Arbeitszeit entschieden, andere würden dies tun, wenn es eine Entgeltersatzleistung gäbe, wieder andere würden ihre Arbeitszeit auch dann nicht reduzieren, um zu pflegen, wenn ihr Einkommensverlust teilweise kompensiert würde. Aufgrund der im Status Quo geschätzten Wichtigkeit von Einkommen und Freizeit kann man abschätzen, wer sich wie entscheiden würde, und das kann man dann auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland hochrechnen. Das Ergebnis sind immer noch Schätzungen. Genau wissen kann man nicht, wie die Menschen reagieren würden. Aber diese Schätzungen sind auf jeden Fall fundierter, als wenn man einfach nur Annahmen treffen würde.

 

Frage 2:

Warum halten Sie die Einführung eines monatlichen Pflegepersonengeldes analog dem Elterngeld für notwendig?

Antwort

Es ist eine Möglichkeit, Menschen im erwerbsfähigen Alter finanziell zu ermöglichen, sich an er Pflege von ihnen nahestehenden Personen zu beteiligen. Die Forderung nach einer solchen Leistung besteht schon etliche Jahre. Sie fand sich vor der letzten Bundestagswahl in den Parteiprogrammen von SPD und Grünen und hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden. Inzwischen befürwortet auch die CDU die Einführung einer solchen Leistung. Allerdings ist es bei Pflegebedürftigen (anders als bei Kindern) ja nicht so, dass sie immer selbständiger werden und immer weniger Pflege benötigen, so dass es extrem schwierig ist, die ideale Leistungsdauer festzulegen. Wenn Menschen sehr lange aus dem Beruf aussteigen, erschwert ihnen das den Wiedereinstieg und ist häufig auch mit beruflichen Rückschritten verbunden. Vermutlich wäre es sinnvoll, Anreize dafür zu setzen, dass Menschen mit einer gewissen Stundenzahl auch während einer Pflegetätigkeit erwerbstätig bleiben. Es hat sich gezeigt, dass viele Pflegende, den Ausgleich, der durch eine Erwerbstätigkeit entsteht, als bereichernd und sogar entlastend empfinden. Auch Anreize dafür zu setzen, dass sich mehrere Menschen die Pflege einer ihnen nahe stehenden Person teilen, kann sinnvoll sein. Allerdings ist es bspw. für Demenzkranke schwierig, sich auf wechselnde Betreuungspersonen einzustellen.

 

Frage 3:

Dass sich viele pflegende Angehörige in einer schwierigen finanziellen Situation befinden, ist weithin bekannt. Darüber hinaus beklagen jedoch viele Betroffene auch, mit der Pflege zuhause chronisch überfordert zu sein. Denken Sie, dass ein Pflegepersonengeld diese Überforderung wirksam vermindert? Oder wäre es vielleicht besser, Seniorentagesstätten, die es ja auch schon gibt, ähnlich wie die Kindertagesstätten zu finanzieren, also bei geringem Einkommen der Angehörigen auch zu subventionieren?

Antwort

Ich habe im Mai eine Veranstaltung besucht, bei der sich Politik, Wissenschaft und Pflegende zur Situation der informellen Pflege ausgetauscht haben. Mein Eindruck war tatsächlich, dass die Pflegenden selbst den Mangel an Entlastungsangeboten in vielen Regionen Deutschlands als das drängendste Problem empfinden. Vermutlich ist es mit der Subventionierung jedoch nicht getan, denn viele Pflegeheime und Pflegedienste haben große Schwierigkeiten, Personal zu finden. Deshalb wurde auf Initiative mehrerer Bundesministerien im Jahr 2019 die „Konzertierte Aktion Pflege“ ins Leben gerufen zur „Verbesserung des Arbeitsalltags und der Arbeitsbedingungen von beruflich Pflegenden sowie zur Stärkung der Ausbildung in der Pflege“.[1]

Ein Vorteil einer Entgeltersatzleistung für informell Pflegende gegenüber dem Status Quo wäre, dass sie die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erleichtert und indirekt auch die Gleichstellung von Frauen und Männern fördert. Von den erwerbsfähigen informell Pflegenden sind immer noch fast 60 Prozent Frauen, und unter den erwerbsfähigen pflegenden Frauen sind gute 45 Prozent, die mindestens zehn Stunden pro Woche pflegen, während es bei den erwerbsfähigen Männern nur knapp 30 Prozent sind. Dies hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen immer noch deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer und auch pro Stunde geringere Löhne erzielen. In der aktuellen Situation ohne Kompensation der finanziellen Einbußen, die entstehen, wenn jemand die Arbeitszeit reduziert, um eine Pflegetätigkeit aufzunehmen, sind es häufiger die Töchter oder Schwiegertöchter, die Pflegeverantwortung übernehmen, sowohl wegen finanzieller Aspekte als auch wegen sozialer Normen. Das Wissen, dass von ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit die Übernahme von Pflegetätigkeiten erwartet wird als von ihren Brüdern oder Partnern, kann sogar die Berufswahl junger Frauen beeinflussen.

 

Frage 4:

Wer soll das Pflegepersonengeld finanzieren?

Antwort

Ähnlich wie das Elterngeld könnte eine Entgeltersatzleistung für Pflegende beispielsweise steuerfinanziert sein.

 

Frage 5:

Viele Betriebe beklagen heute einen Mangel an Fachkräften. Sie fürchten neue Gesetze, die zu Ausfall von Arbeitskräften führen mit der Option der Rückkehr an denselben Arbeitsplatz, weil es sie unflexibel macht. Geht die Vorstellung, neben einer finanziellen Unterstützung (die es aktuell für maximal zehn Tage schon gibt) den Pflegenden zusätzliche Rechte gegenüber dem Arbeitgeber einzuräumen nicht genau in diese Richtung? Wären die Arbeitgeber also für Ihr Vorhaben überhaupt zu begeistern? Haben Sie da schon einmal vorgefühlt?

Antwort

 

Aktuell können Pflegende, die ausschließlich zu Hause versorgt werden, Pflegegeld beziehen, das prinzipiell an die pflegenden Angehörigen weitergereicht werden kann. Pflegende können außerdem eine unbezahlte Auszeit von bis zu zwei Jahren nehmen, davon maximal sechs Monate mit einer vollständigen Freistellung von der Arbeit. Unter bestimmten Voraussetzungen können Sie für Pflegetätigkeiten außerdem Rentenpunkte erhalten. Eine Entgeltersatzleistung, die bereits existiert, ist das Pflegeunterstützungsgeld, das für kurzzeitige Arbeitsverhinderungen von maximal 10 Tagen gezahlt werden kann, z.B. um bei erstmaligem Eintreten einer Pflegebedürftigkeit eine pflegerische Versorgung zu organisieren.

Mein Eindruck ist, dass es da bei den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern große Unterschiede gibt. Viele sehen die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege als Instrument, um sich für Fachkräfte attraktiv zu machen und machen ihren Beschäftigten sogar eigene Angebote. Wenn Vereinbarkeit gut gelingt, wenn Fachkräfte nicht dauerhaft aus dem Beruf aussteigen, und wenn Pflegeverantwortung auf viele Schultern verteilt wird (was ja Ziele einer Entgeltersatzleistung sind), profitieren auch die Unternehmen.

Wir haben auf Basis von Erwerbsverläufen in den Daten der Deutschen Rentenversicherung mal Schätzungen dazu gemacht, wie viele Steuern und Sozialversicherungsbeiträge dem Staat aktuell dadurch entgehen, dass manche Personen nach Beendigung ihrer Pflegetätigkeit ihre Erwerbstätigkeit nicht wieder in vollem Umfang aufnehmen oder sogar aufgeben. Die entgangenen Einnahmen sind um ein Vielfaches höher als die Mindereinnahmen, die während des Andauerns von Pflegetätigkeiten entstehen. Könnten Unternehmen pflegende Beschäftigte jederzeit durch Andere ersetzen, wäre das Problem aus Unternehmenssicht wohl weniger gravierend. Aufgrund von demografischem Wandel und Fachkräftemangel sind Beschäftigte jedoch nicht so leicht zu ersetzen, und die Alternative, pflegende Beschäftigte im Unternehmen zu halten, wird attraktiver.

 

Frage 6:

Rechnen Sie aus heutiger Perspektive, in Anbetracht der veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, noch mit der Einführung einer Pflegepersonenzeit und eines monatlichen Personengeldes und wenn ja, ab wann wäre damit zu rechnen?

Antwort:

Das Recht, längere berufliche Auszeiten zu nehmen, gibt es ja bereits - die bis zu sechsmonatige  Pflegezeit für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten, und für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als 25  Beschäftigten die zweijährige Familienpflegezeit. Während der Familienpflegezeit müssen jedoch, anders als während der Pflegezeit, durchschnittlich mindestens 15 Wochenstunden gearbeitet werden. Der Koalitionsvertrag sieht die Weiterentwicklung der entsprechenden Gesetze und die Einführung einer "Lohnersatzleistung" vor. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass die Idee einer Entgeltersatzleistung (die potentiell auch Selbstständige einschließt) komplett ad acta gelegt wird, da sie inzwischen so viele Befürworterinnen und Befürworter hat.

 

Frau Dr. Calahorrano, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/konzertierte-aktion-pflege-2053798

Quelle des verwendeten Fotos: Stefan Knauf bei Wikipedia Fraunhofer-Campus "Schloss Bilinghoven"

Zurück